Robin Lindner's profile

Ratttour aufs Land [EP/02]

Ich besitze ein paar Fahrräder. Genau genommen sind es sechs. Eigentlich waren es einmal acht. Doch mit acht Fährrädern beginnen die Leute zu tratschen. Sie sagten, ich hätte zu viele Fahrräder. In meiner Anwesenheit fiel das Wort "Fahrradfriedhof" – und während es bedeutungsschwer in den Raum fiel, blickte man verstohlen oder hämisch zu mir. Ich beschloss zu handeln und schenkte eines der Räder meiner Freundin. Es verschwand aus der Statistik, doch ich kann es noch heute fahren und umsorgen. Ich vermute, so fühlt sich Steuerbetrug an.

Seitdem besitze ich also sechs Fahrräder – wobei zwei wiederum gerade auf Diät sind und nicht viel mehr als ihr Gerippe auf die Waage bringen. Im Grunde genommen sind es also läppische vier Fahrräder. Eines davon ist allerdings ein Klapprad – und das zählt bekanntlich nur als Gepäckstück.

In besitze also genau genommen drei Fahrräder – und schaue ich genauer hin, bin ich damit schmal aufgestellt: Mein prolliges Mountainbike aus der Kategorie Pubertätssünde hat weder Schutzblech noch Gepäckträger. Das bedeutet eingeschränkten Gepäcktransport und bei Hamburger Schietwetter fast immer eine Spur Matschpropfen am Hintern. Und da zuletzt mein Rennrad einen Platten hat, besitze ich für den Alltag nur ein sinnvoll nutzbares Fahrrad.

Das einzig sinnvoll nutzbare Fahrrad hat jedoch ein Problem: Es besitzt nur einen sinnvoll nutzbaren Sitz. Doch was, wenn ich Besuch bekomme? Wenn ich mich aufmachen möchte, mir mit Freunden die Welt zu erstrampeln? Gepäckträger und Lenkstange sind für den Transport von Gästen nun wirklich keine Option. Ich bräuchte ein Zweitfahrrad - denn aktuell besitze ja nur dieses eine.


Doch auch ein Zweitfahrrad hätte ein Problem: Es könnte von mir nicht bewegt werden, während ich auf meinem Erstfahrrad sitze. Möchte ich meinen Gast etwa vom Bahnhof abholen, würde er sagen: "Hey! Hast du mir auch ein Fahrrad mitgebracht?". Ich müsste verneinen. Er müsste entweder auf der Lenkstange oder dem Gepäckträger platznehmen und sich bei der Fahrt vermutlich den Hals brechen. Oder ich müsste bei der Fahrt zum Bahnhof mein Erst- und Zweitfahrrad gleichzeitig manövrieren und mir dabei vermutlich den Hals brechen.

Nur ein klitzekleiner Fahrradmangel konnte meine Welt also ins Wanken bringen und ein ganzes Konglomerat unlösbarer Probleme hervorzaubern. Noch mit dem Angstschweiß auf der Stirn rief ich meinen Freund David an, um mich an den letzten Strohhalm zu klammern, der mir blieb. So griffen wir nach der einzig logischen Lösung – und kauften ein Tandem. ↓
Das Tandem hatte nicht nur ein Problem, sondern ganze drei: Erstens war es alt. Zweitens war es reparaturbedürftig. Und drittens stand es nicht in Hamburg, sondern in Hannover. Wir hatten uns dennoch in den Kopf gesetzt, es zu überführen. Daraus ergaben sich wiederum zwei Probleme: Zum einen verfügt das Tandem nur über einen Gepäckträger – deutlich zu wenig beim Gepäcktransport für zwei Personen. Zum anderen war es Januar und leider arschkalt.

Da wir unsere Freundin Charly für die Idee begeistern konnten, schnappten wir uns also mein einzig sinnvoll nutzbares Fahrrad und bestückten es mit so vielen Radtaschen wie möglich. Die Radtaschen wiederum füllten wir mit den wärmsten Sachen, die wir finden konnten. Dann stiegen wir in den Zug nach Hannover.

Der Zustand des Zweisitzers entpuppte sich als viel besser als erwartet. Zwei der vier Bremsen des Rades griffen. Und immerhin zweieinhalb der fünf Gänge funktionierten. Vor allem aber rollte es äußerst passabel und hatte, wie erhofft, zwei Sitze. Wir rollten hinaus auf die durchwurzelten Radwege, die allerorts die rauschenden Landstraßen begleiten. Wir stießen hinein in das trostlose Januargrau, das sich über die Landschaft legte und rein gar Nichts zur Reiseromantik beitrug.

Doch wir hatten ein Ass im Ärmel. Es hatte zwei Räder, zwei Sitze und zweieinhalb Gänge. Wir fuhren ein- oder zweimal in die Rabatten, danach hatten wir den Tritt raus und rollten mal mehr, mal weniger wackelig Hamburg entgegen. Ich fühlte mich wie ein Kind, das ein neues Spielzeug entdeckt hatte. Das Fahren machte derart viel Spaß, dass uns das trübe Wetter nichts anhaben konnte. Durch die Käffer Niedersachsens hallten schallende Kommandos: TRETEN! ROLLEN! SCHALTEN! BREMSEN! Nicht wenige drehten sich nach uns um. Und ein paar schüttelten ungläubig die Köpfe, als wir von unserer Mission erzählten.

Dieses Kopfschütteln konnte ich in den kalten Nächten gut verstehen. Sie kamen lang, dunkel und hatten Minustemperaturen im Gepäck. Wir verzogen uns in die Kneipe und wehrten uns mit Korn. Wir entzündeten mit geballter Inkompetenz ein Feuer und kochten Wasser für unsere Wärmflaschen. Die Kälte erreichte mich im Schlafsack trotzdem immer irgendwo. Sie spazierte über die Kältebrücken und grüßte mit ihren kalten Fingern meine Zehen oder den Hintern. Besonders oft setzte sie sich auf meine Nasenspitze, die als einziges aus meinem zugezogenen Schlafsack ragte. Doch es waren nur Punkttreffer und der Gesamtsieg ging an uns. ↓
Andere Radreisende trafen wir nicht. Wir überlegten gar, ob wir die ersten waren, die auf einem Tandem im Januar die Lüneburger Heide durchschnitten. Die Fantasie motivierte uns. Wir feuerten uns und vor allem unser Tandem an. Im Rausch des Kornes hatten wir es Ralph-Rüdiger getauft, was unsere Bindung zu diesem lilafarbenen Stück Stahl weiter stärkte. Je tiefer wir in die Heide vordrangen, desto wahrscheinlicher erschien es uns, dass wir tatsächlich eine Pionierleistung vollbrachten. Denn die sandigen Böden verlangten dem alten Rad und unseren Knien alles ab. Wir sehnten uns nach mehr Gängen. Der Ständer ratterte bei jeder Bodenwelle wie ein klopfender Specht. Der vordere Sattel quietschte bei jedem Tritt. Und den vierten Gang erwischten wir nur, wenn wir aufhörten zu treten und ordentlich in ein Schlagloch wummerten. Wir nannten ihn den Zaubergang und bejubelten jeden seiner seltenen Dienste.

Irgendwann ratterten, quietschten und wummerten wir uns über die Stadtgrenze Hamburgs. Damit hatten wir das dritte Problem des Tandems endlich gelöst. Es stand nun nicht mehr in Hannover, es rollte in Hamburg. Als Belohnung für das gelöste Problem erhielten wir zwei neue. Denn als wir in die S-Bahn steigen wollten, stellten wir einerseits fest: Tandems sind länger als normale Fahrräder. Im öffentlichen Nahverkehr passen sie nicht in die Aufzüge und wollen getragen werden. Andererseits begreifen wir: Tandems sind sperriger als normale Fahrräder. Sicher und trocken auf meinem Dachboden kann unser Neuerwerb nicht abgestellt werden, da er nicht durchs Treppenhaus passt.

Seitdem steht das Tandem neben meinem einzig sinnvoll nutzbaren Fahrrad draußen am Fahrradständer - und wird auch im Alltag genutzt. Erst kürzlich war ich mit Elena und ihrer Freundin Birte auf einem Konzert verabredet. Beiden waren mit den Öffis unterwegs. Elena fragte mich: "Hey! Holst du mich mit dem Fahrrad ab?", und ich bejahte. Ich brach mir nicht bei dem Versuch, zwei Fahrräder zur Konzerthalle zu manövrieren, den Hals. Und sie fuhr auch nicht auf meinem Gepäckträger zurück. ↓
Ihre Freundin Birte allerdings hätten wir gerne noch bis zum Bahnhof gefahren. Doch leider hat das Tandem ein Problem: es hat nur zwei Sitze. Und Lenker und Gepäckträger waren nun wirklich keine Transportoption. Da stand ich nun – und der Angstschweiß strömte mir auf die Stirn. Es blieb nur eine logische Lösung. Also kramte ich nach meinem Handy, um David anzurufen ... ←
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