Mit ihrem Text die Recherche gewann die deutsche Schriftstellerin Nora Gomringer 2015 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ihre Erzählung handelt von dem von Geheimnissen verschlungenen Haus in der Gönnerstraße 18. Dort recherchiert Nora Bossong, ebenfalls Autorin, nach dem Freitod eines kleinen Jungen nach der Wahrheit für ihr neues Buch. Doch anstatt die Geheimnisse aufzudecken, droht sie, wie der Junge vor ihr, vom Gewicht des Hauses und seiner Bewohner erdrückt zu werden.

Als Begleitung zum Text wurde eine Serie an Illustrationen angefertigt, die Nora Gomringers besondere Art und Weise des Schreibens aufgreifen und erzählen, ohne zu viel zu verraten. Umgesetzt wurden die zehn handelnden Personen in einem Tartotspiel. Die Bedeutungen der Karten wurden jeweils so ausgewählt, dass sie dem der Charaktere aus der Erzählung entsprechen.  
Herr Thomas als Der Eremit

Verloren. Vergessen. Einsicht. Kein Bedarf. Kein Verlangen. Eigene Welt. Bei dem Eremiten geht es um den Weg der eigenen Identität. Es geht um Ziele, die man aus seinem eigenen tiefsten Herzen erreichen will, nicht um fremde Ideologien und Wertmaßstäbe zu entsprechen. Die Veränderung wird nicht durch das Außen sondern durch das Inneren herbeigeführt. Manchmal kommen wir in unserem Leben an Wendepunkte, an denen alles zusammenzubrechen scheint. Wenn wir in so einer Phase keinen äußeren Ankerpunkt haben, z.B. eine nahestehende Person, die uns durch Anteilnahme und Unterstützung wieder unsere Aufmerksamkeit auf das Licht am Horizont ausrichtet, verlieren wir vielleicht den letzten Funken Lebensmut. Herr Thomas, oder der verwirrte Mann aus dem dritten Stock ist der Eremit. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein einsamer verrückter Mann. Und zu gerne stempeln wir Menschen einfach als verrückt ab und vergessen oft dass dahinter immer noch ein Mensch steht, der so viel mehr ist. Denn niemand ist einfach nur verrückt. Einige sind einfach noch auf dem Weg sich zu finden, ein paar haben den Weg vielleicht verloren oder aufgegeben und andere sind einfach angekommen. Und von ihnen haben wir doch am meisten Angst. Vor einer Person die bereits weiß, wer sie ist. Denn für Wanderer und Eroberer, wie wir es sind, gibt es nichts Bedrohlicheres als jemanden, der bereits erreicht hat, was wir noch suchen. Nun muss jeder für sich entscheiden, auf welcher Station Herr Thomas sich auf seiner Reise befindet.
Eve Terp als Der Teufel

Das Gewohnte verlassen. Mit Regeln und Konventionen brechen. Etwas Neues riskieren. Der Teufel im Tarot steht für die „schlechte“ Seite unseres Seins. Unsere Begierden und Verlangen, die wir in unsere von Normen beherrschten Welt streng kontrollieren. Zu leicht lassen wir uns von Glaubensansätzen und Ansichten anderer verketten, die wir weder hinterfragen noch durchschauen. Der eigene Weg mag nicht immer der einfachste sein, aber er ist unsere allein. Eve Terpe ist der Teufel, da sie seine die Ideale akzeptiert und widerspiegelt. Sie ist ein sehr exzentrischer Charakter, der sich versucht in jeder Szene als ein solcher darzustellen. Sie macht sich nichts aus den Ansichten der anderen und geht damit sogar so weit, dass sie mit ihren Aktion das Gesetz bricht und verhaftet wird. Dieses Verhalten für dazu, dass sie von Außenstehenden als Fehler in der Gesellschaft angesehen wird und manchmal auch als psychisch gestört beschrieben wird. Und das nur, weil sie sich nicht einfügt, in ihrer Lücke in der Gesellschaft sondern darauf besteht herauszustechen. Es geht bei dieser Karte nicht, wie man vielleicht zuerst denkt um Unmoral, Sünde und Verführung. Es geht bei dieser Tarotkarte um Blockaden der Allgemeinheit und Situationen in denen wir uns unwohl fühlen. Sprengen wir die uns auferlegten Ketten, erleben wir eine Welt der Freiheiten
Tobias Gerling als Der Gehängte

Opfer eines fremden Verbrechens. Hilflosigkeit. Verzweiflung. Verlust. Manchmal befinden wir uns in Situation, die uns ausweglos und sinnlos erscheinen. Manchmal werden wir übervorteilt oder ungerecht behandelt und möchten sofort aggressiv dagegenhalten. Doch diese Tarotkarte ist eine Übung in Geduld. Am nächsten Morgen sieht die Gesamtsituation vielleicht ganz anders aus. Überstürztes Handeln führt meist nur zu mehr Schmerz. Hierfür steht der Gehängte. Wegen Umständen und Verbrechen anderer wird er gerichtet. Als Bestrafung mit den Füßen an einen Baum gehängt muss er seine Kraft sparen, um aus dieser brenzlichen Situation wohlbehalten wieder hervorzukommen. Tobias Gerling, der Junger der sein eigenes Leben nahm. Er steht für die Tragik des gehängten Mannes. So wurde von Monstern die wie Kinder aussehen und einem kalten Haus ohne Liebe und Verständnis so lange Druck auf in ausgeübt, bis er handelte. Er selbst konnte für die Situation nichts, in der er war. Er war unschuldig daran, dass er vom Jugendamt von seiner Familie getrennt wurde. Er war unschuldig an der kalten Familie, die ihn aufnahm. Und er wahr unschuldig an dem Hohn, dem Spott, dem psychischen und physischen Missbrauches dem er ausgesetzt war. Doch ist er schuldig daran, dass er sein eigenes Leben nahm. Manchmal scheint es, als stände die Welt Kopf, als wäre alles gegen uns und wir wären ein Bauernopfer der Wahllosigkeit. Dann hilft es einen Schritt zurück zu treten, die Situation zu betrachten und abzuwarten bevor man überstürzt handelt.
Die Professorin als Die Liebenden

Keine Veränderung. Ein Zustand der Schwerelosigkeit. Tiefe Bindung, kein Vergessen. Von Überleben und Überlieben. Eine Tarotkarte, die uns motiviert, uns jetzt in die natürliche Ordnung einzupassen und unseren Gefühlen zu vertrauen. Sie will von uns komplette und bedingungslose Hingabe. Zeigt uns gleichzeitig was wir gewinnen und was wir verlieren können. Sie zeigt uns unsere Glücklichkeit und den Preis, den wir dafür zahlen müssen. Denn um etwas zu gewinnen, muss früher oder später etwas von gleichem Wert verloren werden. Die Professorin mit ihrem verstorbenen Mann symbolisieren die Liebenden. So liebten sie sich zu Lebzeiten innig und einig. Doch entstand daraus eine vollkommende Abhängigkeit. Der eine ist ohne den anderen nicht mehr. So lebt sie nach dem Tod ihres Mannes in einer Scheinwelt, erschaffen aus dem Schock ihres Verlustes heraus. Denn so wie ihre Liebe sie in der Vergangenheit bereichert hat, so sehr hält sie sie jetzt in einer Illusion gefangen. Er hat ihr gezeigt, was es heißt Komplett zu sein, nur um sie dann zu verlassen mit einem Verlangen nach Mehr. Verzweifelt versucht sie nun dieses alte Gefühl künstlich zu erschaffen. Und greift dazu sogar auf gefährliche Sexpraktiken zurück mit anscheinend keinerlei Interesse für ihr eigenes Leben. Diese Karte zeigt uns, was wir sein können. Sie verspricht uns Glückseligkeit in Zweisamkeit. Aber sie zeigt uns gleichzeitig die Gefahr, die darin steckt, sein Ich für ein Wir aufzugeben.
Gott der verlorenen Dinge als Der Tod

Geben. Betrachten. Der Sammler. Das Ende einer Phase. Nehmen. Der Zweck dieser Karten besteht nicht darin, jemanden den Tod vorauszusagen, sondern eine endgültige Situation zu repräsentieren. Tatsächlich geht es um eine Situationsveränderung, bei der das Alte vergehen muss, damit etwas Neues wiedergeboren werden kann. Bei diesem Wandel geht es um ein Opfer, das die Veränderung erforderlich macht. Das Alte macht Platz für das Neue. Der Wassermann, der Erlkönig, der Gott der verlorenen Dinge. Der wohl rätselhafteste Charakter, der uns vorgestellt wird. Er ist jemand, der viel Zeit hat und Leute beobachtet. Er selbst ist für die meisten Leute unsichtbar. Wenn sie ihn einmal sehen ist es für sie zu spät und es dauert meist nicht lang, bis er sie frisst. Als Sammler verliert er selbst nie den Weg und sucht Leute, die voller Verlieren sind. Die Tatsache, dass er die Häuser anderer nicht betreten kann, stört ihn dabei nicht. Denn früher oder später verlassen sie alle ihr vermeidlich sicheres Haus und fallen ihm zum Opfer. Doch bevor er seine Objekte sammelt schenkt er ihnen einen Moment der Klarheit, des Begreifens. Ist er doch die Wahrheit und Lösung jedes Rätsel, dass uns gestellt wird. Der Kreislauf des Lebens besteht aus Werden und Vergehen. Das Universum drückt sich in jeder Sekunde durch uns aus. Wachstum und Weiterentwicklung sind nur möglich, wenn alte und starre Strukturen durch neue ersetzt werden. Das repräsentiert der Wassermann, der Erlkönig, der Gott der verlorenen Dinge. Der Tod.
Nora Bossong als Die Hohepriesterin

Intuition. Entscheidungen. Ermitteln. Vermitteln. Das Gleichgewicht finden. Es geht bei dieser Tarotkarte um die Organisation der verschiedenen Situationen und Eindrücke des Lebens. Es müssen täglich zahlreiche Entscheidungen getroffen werden, obwohl nicht alle Fakten offenliegen. Die Hohepriesterin hat die Aufgabe, zu vermitteln und Gefühle und Empfindungen der Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung richtig einschätzen zu können. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss sie auch ihre eigenen Gefühle und ihre Rolle in diesem Spiel klar sein. Nora Bossong die Ermittlerin mit den großen roten Lippen. So scheint sie am Anfang total fehlplatziert und verloren in diesem Haus voller Rätsel. Doch schon bald lässt sie durchblicken, dass sie sehr wohl weiß, welche Spielchen hier gespielt werden. Sie durchschaut die exzentrische Eve und findet Wahrheiten in Herr Thomas wirren Gedanken. Selbst Familie Leu durchblickt sie. Die Mutter als die Beschützerin der Bestien und ihre Kinder als Wurzeln des Übels. So kämpft sie sich Stock für Stock durch dieses Haus der Geheimnisse, doch scheint trotzdem nicht alle Informationen zu haben. Was weiß die Professorin hinter ihrer verriegelten Tür. Warum glaubt Eve, dass sie mitschuldig ist. Und warum wurde der Junge seinem Vater weggenommen. Dies alles ist uns Nora Bossong am Ende der Erzählung noch schuldig. Doch ihre Untersuchung ist noch lange nicht vorbei. Vertraue Deiner Intuition. Wenn keine Entscheidung getroffen werden, treten wir auf der Stelle und sind keinen Schritt weiter.
Phillip und Thomas Leu als Der Narr

Fehlende Reife. Sorglosigkeit. Dummheit. Bevorstehen einer großen Gefahr. Der Narr muss seine Erfahrungen im Leben erst noch machen. Er steht am Beginn einer Reise. Er ist eine Ermutigung und Warnung zu gleich. Eine Ermutigung, seiner Neugier Raum. Er symbolisiert sozusagen die Einschulung ins Leben. Aber er warnt uns auch vor Abgründen. Je weiter wir gehen, je größer unsere Ziele desto größer auch die Gefahren und der Sturtz in unbekannte Tiefen. Phillip und Thomas, die Gebrüder Leu, ergeben zusammen den Narren. Sorglos, ohne Skrupel und Reue leben sie ihr Leben mit Scherzen, Videospielen und einem vorlauten Mundwerk. Fast könnte man meinen man hat hier zwei normale Kinder vor sich und nicht etwa barbarische Mörder. Denn egal wie sehr sie es in ihren kleinen missgebildeten Hirnwindungen leugnen wollen, das ist, was sie sind. Mörder der übelsten Art. Denn anstatt die Tat wenigstens selbst zu vollführen und die Schuld für ihre Taten so auf sich zu nehmen, trieben sie einen armen unschuldigen Jungen - nur wegen dem, was er ist - dazu sich selbst das Leben zu nehmen. So sind sie der Narr, der Jüngling, der auf seiner Erkundung zu nah am Abgrund wanderte und fiel. Ob der Sturz jedoch nur als Lektion für sie endet, aus der sie für immer etwas lernen werden oder ob sie sich beim Aufprall das Genick brechen, steht erst noch aus.
Frau Leu als Der Mond

Unfassbar. Angst. Mutter. Beschützen. Dunkelheit. Unaufhaltsam voran. Beim Tarot steht der Mond für Geheimnisse und verborgene Empfindungen. Die Karte schreit nach Klarheit. Jeder Mensch ist in bestimmten Dingen seines Lebens absolut logisch, rational und vernünftig. In Gefühlsangelegenheiten – und genau das drückt der Mond aus – ist niemand logisch, rational und vernünftig. Wir verlieren uns in unseren Gefühlen. Dieser Sehnsucht unseres Herzens und unserer Empfindungen nicht nachgeben zu dürfen, kann gefährlich sein. Intuitives Denken und rationales Kopfdenken muss ausgeglichen sein. Wegen diesem rein Rationalem Handeln wird der Mond oft als Mutter dargestellt. Frau Leu als der Mond symbolisiert die bedingungslose und unrationale Liebe einer Mutter zu ihren Kindern. So weiß sie sehr wohl um die Grausamkeit ihrer Söhne bescheit. Doch die Liebe einer Mutter bindet sich nicht an herkömmliche Konventionen. Sie ist Mutter und ihre Aufgabe ist es ihrer Kinder zu beschützen. Egal wie unlogisch das sein soll oder wie viel Kritik sie dafür erntet. Nichts ist für sie wichtiger als ihre Kinder. Geblendet von ihren Emotionen erkennt sie jedoch nicht, dass ihre Söhne schon lange nicht mehr nur Störenfriede sind, sondern sich schon bis in die Klasse der Mörder hochgearbeitet haben. Ängstlich, ziellos, irritiert und nur von Gefühlen geleitet, ist es einfach vom rechten Weg abzukommen.
Gönnerstraße 18 als Der Turm

Potenzial. Sicherheit. Geborgenheit. Zusammenbruch der Illusion. Gefahr. Am Ende nur Schmerz. Der Turm, das Haus, das Zuhause. Ein Ort der Sicherheit. Wir fühlen uns hinter unseren dicken Mauern und in unseren hohen Wohnungen sicher. Wir reden uns gerne ein, dass uns nun nichts mehr geschehen kann und alles unter unserer Kontrolle steht. Wir herrschen von unserem hohen Turm über alles. Doch ein Blitzschlag reicht und unsere goldene Krone des Turms wird von der Spitze heruntergeschlagen. Der Turm - unsere Sicherheit - brennt und Nichts und Niemand wird sein Abbrennen verhindern können. Die Bewohner des Turms stürzen in Todesangst aus den obersten den doch unangreifbarsten Fenstern. Sie werden nie wieder in der vermeidlichen Sicherheit des Turmes existieren können. Der Aufschlag auf den steinigen Boden der Realität wird hart und schmerzvoll. Gönnerstraße 18, ein Wohnhaus wie jedes Zweite. Fast scheint es, als wären hier noch alle sicher. Dabei hat das Unheil bereits begonnen. Ein Junge, der den Schutz des Hauses am nötigsten hatte, ist sowohl Opfer und Naturgewalt zugleich. Er ist das Ohmen des aufziehenden Sturms. Anstatt dieses Zeichen richtig zu deuten, fühlen sich die Bewohner in ihrer falschen Sicherheit und Ignoranz immer noch geborgen. Doch das Unheil steht erst noch aus. Denn der Sturm ist über ihnen, bereit alle ihre Illusionen von Sicherheit und Unschuld wegzuwaschen.
Herr Gerling als Der Herrscher

Macht. Sprachlos. Vater, Verantwortung. Gütig. Keine Ausreden und keine Schuldzuweisungen. Als Herrscher steht man an der Spitze der Verantwortung und ist ein Repräsentant des ganzen Reiches. Damit ordnet sich der Herrscher klaren Strukturen und Regeln unter. Er kann die Verantwortung und die Schuld nicht auf andere schieben – er selbst ist auch für die Fehler und Schwächen seiner Untergebenen verantwortlich. Herrschaft bedeutet, sein Leben nach eigenen Regeln zu lenken und sich nicht in fremde Strukturen zu verfallen. Er muss klare Anweisungen geben, Gesetze erlassen und auch richterliche Entscheidungen treffen. Sein Sohn ist tot. Sein Sohn ist tot und niemand will Schuld daran haben. Und Herr Gerling wird ganz bestimmt nicht damit anfangen. Denn er weiß, wenn er anfängt, mit dem Finger zu zeigen wird es nicht lange dauern, bis er auf sich selbst zeigt. Immerhin ist er der Vater. Er ist der Herrscher, der Beschützer des Jungen. Er war es zumindest, denn er hat versagt. Und ohne Volk ist er handlungsunfähig, machtlos, schwach, sprachunmächtig. Schuldzuweisungen nützen dem wahren Herrscher nichts. Wenn er anderen die Schuld gibt, übergibt er damit auch die Verantwortung und die Macht ab. Damit ist der Herrscher auch eine Aufforderung, in seinem Herrschaftsbereich - vielleicht kleinen - die Verantwortung zu übernehmen.
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Illustration zu Nora Gomringers "Recherche"

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